Atomkatastrophe Fukushima: Vom Zufluchtsort aus denke ich an meine „Heimat Fukushima“

CA3G0081Anlässlich des zweiten Jahrestages der Atomkatastrophe in Japan veranstaltete die Evangelische Akademie in Tutzing vom 13. – 14.3.2013 die Tagung „Fukushima und die Konsequenzen„.  In der Ankündigung war zu lesen: „Die Dreifachkatastrophe von Fukushima brachte viel Leid in der Region und war ein tiefer Einschnitt für die japanische Energiepolitik. Mit Gästen aus Japan werden wir zum Jahrestag gemeinsam mit dem Bund Naturschutz/BUND einen deutsch-japanischen Austausch zur Energiewende in Japan und Deutschland führen.“ Die Vorträge der ReferentInnen hat die Ev. Akademie hier zum download bereitgestellt. Die Vorträge befassen sich mit der Diskussion in Japan zum Atomunfall, aber auch mit den Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind. Darunter z.B. auch eine Rede von Hiroko Uehara, der Generalsekretärin der kommunalen Vereinigung „Bürgermeisterrat für ein nuklearfreies Japan“ (PDF).
Besonders bewegend war die Eröffnungsveranstaltung, auf der HASEGAWA Katsumi eine Ansprache hielt, wie er die Katastrophe von Fukushima erlebte, welche Konsequenzen diese Katastrophe für ihn und seine Familie hatte und bis heute hat. Herr Hasegawa und seine Frau entschieden sich nach dem mehrfachen Super-GAU zu einer „Evakuierung in Eigenverantwortung“. Die japanische Regierung hatte seinen Heimatort nicht zur Verbotszone erklärt, obwohl die Region stark radioaktiv belastet war. Deshalb entschied sich die Familien, sich selbst zu evakuieren. Den sehr persönlichen Bericht von Herrn Hasegawa über die Folgen der Atomkatastrophe für ihn und seine Familie dokumentiert umweltFAIaendern mit seiner Zustimmung in voller Länge hier. Ein besonderer Dank für die Übersetzung geht an Lena Shimada:
Vom Zufluchtsort aus denke ich an meine „Heimat Fukushima“  Tepo-Fukushima-Block3-110411_1f_5
Block 3 des Katastrophen AKW Fukushima. Foto: Tepco(Prolog)  1 kurze Vita
„Mein Name ist Katsumi Hasegawa. Ich wohne in der Stadt Fujinomiya in der Präfektur Shizuoka in Japan. Fujinomiya ist eine landschaftlich schöne Stadt am Fuße des Berges Fuji.
Bis zur schweren Erdbebenkatastrophe im März 2011 und dem nuklearen Unfall des Atomkraftwerks Fukushima I lebte ich in der Stadt Kôriyama in der Präfektur Fukushima.
Im November 2003 zog ich aus beruflichen Gründen nach Fukushima.
Dort heiratete ich eine aus Fukushima stammende Frau und wir bekamen einen Sohn.
Wir hatten den Plan gemeinsam mit der Familie meiner Frau für immer in Fukushima zu leben.
Aber nach dem Unfall von Fukushima I fürchteten wir um die Gesundheit unseres Kindes aufgrund der radioaktiven Strahlung. Daher evakuierten wir uns eigenverantwortlich (ohne amtliche Anweisung) am 11. August 2011 in die Präfektur Shizuoka.
Zu dieser Zeit war meine Frau mit unserer ältesten Tochter schwanger, die im Februar 2012 ohne Komplikationen geboren wurde. Bei der Geburt sorgten wir Eltern uns: „Hat das Kind normale Füße?  Hände? I Finger?“ Die anfänglichen Sorgen „wenn sie nur keinen physischen Schaden hat“ haben wir jetzt überwunden. Unsere Tochter ist ein Jahr alt und groß für ihr Alter.
In Fujinomiya, wo wir Zuflucht suchten, betreibe ich derzeit einen im Juni 2012 eröffneten, kleinen Tagespflegedienst für ältere Menschen. Zugleich engagiere ich mich für den Schutz der Kinder aus Fukushima vor radioaktiver Strahlung.
Ich möchte noch einmal auf die Stadt Kôriyama in der Präfektur Fukushima zurückkommen, in der ich wohnte. Diese Stadt befindet sich zwar in über 50 km Entfernung von Fukushima I, unglücklicherweise wurde ihre Umgebung aber aufgrund der Windrichtung nach der Explosion stark verstrahlt.
In unserem Garten trugen wir so gut wir konnten die Erde und spülten mit Wasser, aber noch Monate nach dem nuklearen Unfall verzeichneten wir bei jeder Messung etwa 1,5 Mikrosivert.
An Orten, an denen Gebüsch wächst, oder unter Bäumen werden auch jetzt, nach zwei Jahren, noch jedes Mal 10-20 Mikrosivert gemessen.
Unlängst wurde bekannt, dass Kinder, die der gleichen Strahlenbelastung nach Tschernobyl ausgesetzt waren zu über 80% gesundheitliche Folgeschäden wie Schilddrüsenkrebs und Herzkrankheiten davontrugen.
2. Wie es zum Entschluss zur Evakuierung in Eigenverantwortung/ohne amtliche Anweisung kam
Zwar verfolge auch ich das Ziel Fukushima wieder wirtschaftlich aufzubauen, doch waren die Risiken für „die Gesundheit der Kinder“, zentral für den Entschluss zur Evakuierung ohne amtliche Anweisung.
Der Entschluss zu welchem meine Frau und ich nach nächtelangen Gesprächen kamen war folgender: „Auch wenn es bedeutet den Arbeitsplatz aufzugeben“, „auch wenn man sagen kann, wir hätten unsere Heimat aufgegeben“, „und auch wenn man es so auffassen kann, dass wir das Vertrauen in Menschen aufgegeben hätten“, entschließen wir uns „Unser Kind ist das einzige, was wir um keinen Preis der Welt aufgeben“ und heute bin ich stolz darauf, dass wir auf eigenen Entschluss/ohne amtliche Anweisung evakuiert sind.
Wir hatten Angst, da sich mögliche, körperliche Folgeschäden nicht auf Schilddrüsenkrebs und Herzkrankheiten beschränken, sondern sich in verschiedenen Krankheitsbildern, wie chronischer Erschöpfung, äußern. Sollten nach Jahren bei unseren Kindern gesundheitliche Folgeschäden auftreten, sind diese irreversibel und nicht wieder gut zu machen, selbst wenn es Entschädigungszahlungen vom Staat geben würde.
Niemand wird in der Lage sein, dafür die Verantwortung zu übernehmen.
Die Frage „was geschieht im Fall, dass auch nach einigen Jahren keiner Folgeschäden davonträgt?“ halte ich außerdem für unsinnig, in Anbetracht der Tatsache, dass es erstens nicht möglich wäre einmal aufgetretene körperliche Folgeschäden unserer Kinder wieder gut zu machen und unter Einbeziehung der Risikoabwägung bezüglich Erbschäden für kommende Generationen.
Dessen ungeachtet kann man ja mal versuchen eine Antwort zu geben. Ich würde einfach denken „Welch ein Glück, dass kein einziger Mensch gesundheitliche Folgeschäden davongetragen hat“. Aber auch in diesem Fall würde ich stolz zu meiner Evakuierung stehen.
3. Der Hintergrund, warum ich mich zur Evakuierung auf eigenen Entschluss, ohne Amtliche Anweisung entschloss
In meinem Fall bedeutete Evakuierung die folgenden Dinge aufzugeben:
a. Ich kündigte mein Arbeitsverhältnis bei einem Pflegedienst auf, den ich seit seiner Eröffnung leitete und überließ ihn den zahlreichen Folgeproblemen der Erdbebenkatastrophe. So überließ ich Mitarbeiter und Nutzer der Einrichtung sich selbst.
Dies war eine überaus schmerzhafte Angelegenheit, da die damalige soziale Umgebung mich Fragen wie: „Entziehst du dich nicht deiner Pflicht als Verantwortlicher?“ konfrontierte.
b. Ich war Vorsitzender des Elternbeirates im Kindergarten meines Sohnes, aber ich habe den Posten zur wichtigsten Zeit nach Hälfte der Amtszeit niedergelegt. Dieser Schritt war noch schmerzhafter als die Kündigung meiner Arbeit. Denn als Vater teilte ich die Sorgen anderer Eltern gleichaltriger Kinder.
c. Die gesamte Verwandtschaft meiner Frau stammt seit Generationen aus der Region Fukushima.
Als wir heirateten, vereinbarten wir die Erbfolge der Familie anzutreten und uns dem Wohle meiner geistig behinderten Schwägerin anzunehmen. Aus diesem Grund wurden wir anfangs in Bezug auf die Evakuierung von meinem Schwiegervater als „egoistisch“ zurechtgewiesen.
In dieser Situation vertrauten wir uns bis zuletzt nur den engsten Verwandten an und flohen.
d. Zwar hatte ich in Fukushima in einer leitenden Position gearbeitet, doch war unser Erspartes sehr gering.
Nachdem wir uns eigenverantwortlich in die Präfektur Shizuoka evakuiert hatten, musste ich meine Arbeit dort nach nur einem Monat aufgeben. Im November musste meine Frau ins Krankenhaus, da die Gefahr einer Frühgeburt bestand. Während ich mich bemühte unseren Lebensunterhalt übergangsweise mit Gelegenheitsarbeiten als Bauarbeiter zu sichern, schmierte ich meinem Sohn die Pausenbrote und brachte ihn zum Kindergarten. Zugleich arbeitete ich daran bis Juni des nächsten Jahres einen kleinen Tagespflegedienst für ältere Menschen zu eröffnen.
Ohne den Entschluss „Ich werde das überleben komme was wolle“, hätte ich es nicht geschafft.
An dieser Stelle möchte ich ein Video von meiner Familie zeigen, wie wir in unserem neuen Wohnort leben. Es handelt sich um eine Aufnahme des japanischen Internetsenders „Our Planet TV“ vom September 2012. Bitte sehen sie es sich kurz an. (leider ohne englische Übersetzung)

4. Zur Situation der Menschen, die keine Möglichkeit zur Evakuierung auf eigenen Entschluss, ohne Amtliche Anweisung hatten
Wir wählten den Weg der Evakuierung auf eigenen Entschluss/ ohne Amtliche Anweisung. Aber es leben noch immer viele Kinder in Fukushima. Und es gibt viele Eltern die den Wunsch hegen, auch jetzt noch zu flüchten. Weshalb sie trotzdem nicht flüchten können lässt sich denke ich folgendermaßen begründen.
a. Meine Schwiegermutter hat angesichts der Gesundheit meiner geistig behinderten Schwägerin mehrmals eine Evakuierung in Erwägung gezogen. Aber mein Schwiegervater wird bald 80 und fasste den Entschluss das Land seiner Vorfahren zu seiner letzten Ruhestätte zu machen.
Meine Schwiegermutter sagte „Ich kann meinen Mann und langjährigen Gefährten nicht verlassen.“
Es gibt viele Menschen, die sich aufgrund ähnlicher innerfamiliärer Meinungsverschiedenheiten nicht fliehen können.
b. Ich habe auch eine Bekannte, die sich gern evakuieren ließe, wenn der Staat und die Präfektur klar sagen würden: „Dies ist eine Region, für die wir Evakuierung anraten“
Sätze wie “Ist es wirklich in Ordnung hier zu leben” oder “ich möchte hier weg” sind im auf Wiederaufbau fokussierten Fukushima zu Aussagen geworden deren Artikulation Mut erfordert.
c. Es sind nicht nur die Lebensumstände als „Opfer“, auch an einem unbekannten Ort leben zu müssen führt zu psychischen Unsicherheiten. Weiterhin gibt es viele Eltern, dich sich aufgrund wirtschaftlicher Unsicherheiten nicht zur Evakuierung ohne amtliche Anweisung/Flucht entschließen.
5. Zum Fakt, dass weder der Staat noch die Kommunen eine Gruppenevakuierung für die Kinder, für die sie verantwortlich sind, durchführt.
Staat und Kommunen dulden eine Belastung von bis zu 20 Millisievert im Jahr. Aber ist dieser Zahlenwert wirklich absolut korrekt? Angenommen es gäbe kein „absolut korrekt“. In diesem Fall müssten wir die Präventionsrichtlinien überarbeiten und Maßnahmen zum Schutz der Zukunft unserer Kinder und Enkel ergreifen. Das Prinzip der Menschen müsste lauten: „Das was wir am allermeisten beschützen müssen ist die
Gesundheit und Zukunft unserer Kinder.“
Ist die Tatsachse, dass Regierung und Kommunen Betroffenen des menschengemachten, nuklearen Unfalls kein Angebot machen Menschen, die von einer Gruppenevakuierung für Kinder betroffen wären aktiv zu beschützen; dass ihnen keine andere Option bleibt, als das eigene Leben und die eigene Gesundheit durch Evakuierung auf eigenen Entschluss, ohne Amtliche Anweisung zu schützen; ist diese Tatsache nicht eine lebensverachtende Handlung? Ist das nicht eine Verletzung der Menschenrechte?
Ich hoffe, dass sich diese Situation so schnell wie möglich zum Besseren wendet, dass Betroffene des menschengemachten Unfalls wieder menschenwürdig behandelt werden.
Abschließend möchte ich Ihnen ein Gedicht vortragen, das ich vor Kurzem schrieb während ich Zeit mit meinen Kindern verbrachte.

“Entwicklung”

Es ist früher Nachmittag, neben mir spielen mein Sohn und meine Tochter.

Der Bruder hätschelt das Schwesterchen, das mit lachendem „hahaha“ zu ihm kommt.

„Sie hat dich, ihren älteren Bruder, sehr lieb.“

Der Bruder sieht stolz aus.

Haben radioaktive Strahlen den Körper dieser Kindes schon Schaden zugefügt?

Sind sie unwiderruflich in diesen Körpern?

Ist es denn nicht möglich, dass ich an ihrer statt Alles aufnehme?

Welche Entwicklung streben unbekannte Erwachsene an, indem sie diese Kinder im Stich lassen?

Wir als Vater und Mutter werden euch immer beschützen.“

Auch wenn wir zuerst sterben, wir werden euch immer und immer beschützen.“

Dirk Seifert

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