Alles nur „Ich-Bürger“? Leitartikel in der Süddeutschen Zeitung polemisiert gegen Protestkultur
Unter der Überschrift „Der Ich-Bürger“ beschäftigt sich die Süddeutsche Zeitung in ihrer heutigen Ausgabe (30.4.2013, Printausgabe S.4) in einem Leitartikel mit der „Protestkultur“ hierzulande. Darin entwirft der Autor Jan Heidtmann ein Schreckens-Szenario. Die „Ich-Bürger“, so seine Befürchtung, sorgen bald dafür, „dass die Republik still steht“. Wie das? Durch die Auseinandersetzungen um Stuttgart 21, argumentiert Heidtmann, habe der Staat gelernt, dass er – bevor er handelt – an die Bürger herantreten, deren Meinung hören, sie ernst nehmen und dann vor allem sein Handeln danach ausrichten muss. „Die Politik, so scheint es im Moment zu sein, hat das begriffen; und der Bürger?“, fragt der Autor rhetorisch. Na, der hat angeblich nicht begriffen, wie Bürgerbeteiligung funktioniert. Er „leistet Widerstand mit dem Tablet-Computer und gnadenloser Expertise“, besetzt Bäume (hier kommt ROBIN WOOD ins Spiel), verhält sich als Nimby (not in my backyard), blockiert die Energiewende und die Suche nach einem atomaren Endlager. Der „Ich-Bürger“, gut ausgebildet und technisch versiert, blockiert, wo er nur kann. Im schlimmsten Falle leistet er „Widerstand um des Widerstands willen“ und schadet der Demokratie. „Bürger-Irrsinn“ – nennt das Heidtmann. Große Worte, schwere Vorwürfe gegen Leute, die sich an den unterschiedlichsten Protesten beteiligen – und eine steile These. Belege, etwa für die angebliche Lernfähigkeit von Staat und Politik, aber fehlen. Was hat sich denn durch den – noch längst nicht ausgestandenen – Streit um Stuttgart 21 in Sachen Bürgerbeteiligung grundlegend Neues getan? Wo sind die Lernfortschritte von Staat und Politik? Wo die Großprojekte, über deren Nutzen ergebnisoffen, transparent und mit allen Betroffenen auf Augenhöhe debattiert wird, bevor Entscheidungen fallen? S21, die Stadtautobahn A100, der Hauptstadtflughafen, die Hamburger Elbphilharmonie – alles Beispiele dafür, wie es gerade nicht laufen sollte. Und bei der Suche nach einem Endlager werden Hoffnungen geweckt, dass es nach jahrzehntelangem Tricksen und Täuschen einen echten Neubeginn geben werde. Die Belege dafür aber stehen noch aus, der Gesetz-Entwurf zur Endlagersuche lässt daran mindestens erhebliche Zweifel aufkommen – und derweil laufen die Atomanlagen weiter. Werden Betroffene tatsächlich auf Augenhöhe und rechtzeitig beteiligt, ist ein Risiko nicht ausgeschlossen: Dass die Akzeptanz für ein Projekt auch mal ausbleibt. Das gehört zu einem ergebnisoffenen Verfahren dazu – und führt längst nicht zum „Stillstand der Republik“. Protestbewegungen haben der Gesellschaft vielmehr einiges erspart: Atommüll, verseuchte Landschaften, Klima- und Gesundheitsschäden, Dreck, Lärm, die Verschwendung von Steuergeldern und vieles mehr. Wer von Bürgerbeteiligung spricht, sollte nicht Akzeptanzbeschaffung meinen. Und davon absehen, pauschal ganze Bevölkerungsgruppen abzustempeln.