Turbostaat – La Hague – Krümmel: Uthlande

Turbostaat – La Hague – Krümmel: Uthlande

Ist jetzt ein Jahr her und irgendwie aus einer anderen Welt. Nicht nur weil das aus der Ecke zwischen Husum und Flensburg kommt. Auch nicht nur, weil es so grad noch von vor Corona kommt. Es ist auch, weil es an Ängste erinnert, die mit Plutonium, mit Radioaktivität, mit Bedrohungen zu tun hatten, mit Kindern und Leukämieerkrankungen in direkter Nähe zum Atomkraftwerk Krümmel. La Hague, da geht es um hochradioaktiven Atommüll und Castor-Transporte nach Gorleben. Es geht im Jahr 10 nach Fukushima und einem immer noch andauernden Atomausstieg um Bedrohungen, die einer jüngeren Generation so weit weg erscheinen als wäre es nie gewesen oder als wäre das mal alles in Schwarz-Weiß passiert. Gegen die sichtbaren Folgen einer Klimakatastrophe bleiben die Risiken von Radioaktivität unsichtbar. Turbostaat hat auf ihrem Album „Uthlande“ im 20. Jahr ihrer Existenz, von der ich selbst nur wenig mehr als den Bandnamen mitbekommen habe, weil Punk einfach nie mein Ding war, den Song „La Hague“ (Youtube) veröffentlich. In diesen Zeiten, allemal mit sägenden Gitarren, ein Sound, der mehr Ohren verdient hat.
La Hague? Das ist einer der weltweit größten Plutonium-Komplexe dieser Erde, in Frankreich, an der Spitze der Normandie. Ein Epi-Zentrum der Existenz-Bedrohung für mehr als einen Kontinent Europa, wenn dort etwas schief geht. Es ist potentieller Unfallort – es ist ein unglaublich gefährliches Angriffsziel. Vollgestopft mit hochradioaktiven und atomwaffenfähigen Materialien, mit einer Haltbarkeit von einer Million Jahren und mehr. Es ist einer der militärisch bestgeschützten Orte der Welt. Es ist Atomstaat. Plutonium: Das ist der Traum nicht nur vieler Militärs, das ist Atomwaffe, das ist Weltmacht, das ist unglaubliche Zerstörung, das ist das, was selbst eine Klimakatastrophe erblassen lässt. Turbostaat – gar nicht mal so falsch, dass diese Band La Hague besingt.
Bis Anfang der 2010er Jahre ist La Hague in der Bundesrepublik bekannt, weil von dort Atommüll in das Zwischenlager Gorleben transportiert wurde. Jeder dieser Atomtransporte zementierte die willkürliche und sachgrundfreie Entscheidung einer SPD-FDP-Bundesregierung in den späten 1970er Jahren, die gemeinsam mit einer CDU-Landesregierung in Niedersachsen, Gorleben an der damaligen deutsch-deutschen Grenze – verächtlich auch Zone genannt – zum Standort für ein Atommüll-Endlager erklärt hatte. Und damit einen der größten gesellschaftlichen Konflikte der Bundesrepublik ausgelöst hatte. Dabei ging es nicht nur um die atomaren Risiken, sondern immer auch um die Frage: Wie wollen wir in einer Welt leben? Solidarisch und gemeinwohlorientiert – oder mit Polizeitstaat und Egoismus?
Der Bezug zur Elbmarsch und Krümmel ist, dass dort in den 1990ern das weltweit größte Cluster von Kinder-Leukämien bestand. In der Nähe zweier Atomanlagen, dem AKW Krümmel und der Atomforschungsanlage GKSS (bei Geesthacht). Radioaktivität gilt als eine der Ursachen für Leukämie. Trotz vieler Bemühungen, konnte eine abschließende eindeutige Ursache nicht festgestellt werden. Damit ist aber auch nicht festgestellt, dass es die Atomanlagen nicht waren.

Der Songtext: LA HAGUE

Schon beim letzten Satz – ein leichtes Zittern
Einmal Kratzen am Kopf – ist es wirklich so spät?
Die Briefe kommen seit über vierzig Jahren
Der letzte kam aus La Hague
Was war das?
Vielleicht ein Déjá-vu
Die Uhren ticken abnormal
Die Tür geht immer auf und zu
In der Elbmarsch wird
Ein Cluster vergessen
Nach Beweisen kommt
Ein recht guter Witz
Und 25.000
Sind nur Russen und weit weg
Trotzdem wissen wir, dass Krümmel existiert
Was war das?
Vielleicht ein Déjá-vu
Die Uhren ticken abnormal
Die Tür geht immer auf und zuVergiss die Geister
Stück für Stück
Bei Tausend Briefen schrieb nie einer zurück
Die Sonne geht
Der Schatten bleibt
Der sich nicht bewegt
Und gar nichts zeigt
Die Sonne geht
Der Schatten bleibt
Und schweigt
Die Merser röhren
Durch Papenburg
Wo die Wahrheit lügt
Fragt niemand mehr
Nach der Abgasuntersuchung
Hört sein Husten vielleicht auf
Schmeißt den Stift ins Glas und geht davon
Was war das?
Vielleicht ein Déjá-vu
Die Uhren ticken abnormal
Die Tür geht immer auf und zu
Vergiss die Geister
Stück für Stück
Bei Tausend Briefen schrieb nie einer zurück
Die Sonne geht
Der Schatten bleibt
Der sich nicht bewegt
Und gar nichts zeigt
Die Sonne geht
Der Schatten bleibt
Und schweigt

Dirk Seifert