Atommüll 1987: Noell „dekontaminiert“ Stahlschrott auf dem Gelände der GKSS – Arbeitsschutz ist nicht so wichtig

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Juni 1987: Auf dem Gelände der Atomforschungsanlage GKSS bei Geesthacht, östlich von Hamburg, „dekontaminiert“ die Firma Noell unter abenteuerlichen Bedingungen Stahlschrott aus den AKWs Brunsbüttel und Krümmel. Arbeitsschutz spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Foto: Hinrich Schultze

Im Frühjahr 1987 werden Anti-Atom-AktivistInnen auf merkwürdige Arbeiten auf dem Gelände der Atomforschungsanlage GKSS in Geesthacht aufmerksam gemacht. Ein Informant berichtet über „unglaubliche Arbeitsbedingungen. Da würde der verseuchte Schrott mit Handschleifmaschinen bearbeitet, die Arbeiter seien kaum geschützt, die technische Ausrüstung mehr als mangelhaft“, schreibt später die damalige Energiereferentin der GAL-Bürgerschaftsfraktion (siehe hier, PDF, der Artikel stammt vermutlich aus der nicht mehr existenten Hamburger Rundschau vom 4. September 1987).
Eine Gruppe aus AktivistInnen von ROBIN WOOD, Geesthachter Initiativen und der GAL-Fraktion will der Sache auf den Grund gehen, sie beschließen, sich als Strahlenschützer verkleidet auf das Gelände der GKSS zu schleichen und als „offizielle Kontrolle“ die Arbeitsbedingungen genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Aktion gelingt – zur Überraschung aller Beteiligten. Was die „Strahlenschützer“ am 30. Juni 1987 finden, bestätigt die Aussagen des Informanten und ist erschreckend: Radioaktiv belasteter Stahl wird in löchrigen Zelten per Hand mit veralteten Maschinen abgeschliffen, Schutzanzüge tragen die Beschäftigten nicht. Die Luft wird nur notdürftig über einen Filter geführt, radioaktive Partikel landen auf dem Boden. Eine Schleuse, in der die Beschäftigten beim Betreten oder Verlassen der Zelte auf Kontamination überprüft werden, gibt es nicht. Siehe dazu den Erlebnisbericht von Rosemarie Rübsamen hier (PDF).
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1987: Auf dem GKSS-Gelände „dekontamieren“ Noell-Angegestellte Stahl: Zwar mit Atemschutz, aber ohne Sicherheitsschleuse. Nach dem Abschleifen radioaktiver Stähle können die Mitarbeiter das Zelt ohne jede Kontrolle verlassen. Foto: Hinrich Schultze

Die Arbeiten auf dem Gelände der Atomforschungsanlage GKSS werden von der Firma Noell durchgeführt. Der Betreiber GKSS sagt nach der Aktion, dass sie für die Arbeiten nicht zuständig sei und nur die Flächen bereit gestellt hätte. Die Stähle, die dort bearbeitet werden, stammen – wie sich später herausstellt – aus den Atomkraftwerken Brunsbüttel und Krümmel, damals betrieben von den HEW (heute stillgelegt gehören sie Vattenfall) . Ziel der Aktion war es, die radioaktiven Stähle oberflächlich zu dekontaminieren, um sie einer weiteren vermeintlich „schadlosen Verwertung“ zuzuführen. (Siehe dazu gleich unten Auszüge aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage)
Der Spiegel berichtet am 13. Juli 1987 unter der Überschrift „Probleme mit Atommüll“, das ROBIN WOOD eine Strafanzeige gegen die GKSS und die Firma Noell gestellt hat: „Die Entsorgung radioaktiven Schrotts aus dem Kernkraftwerk Brunsbüttel auf dem Gelände des GKSS-Forschungszentrums Geesthacht bei Hamburg, an dem der Bund beteiligt ist, wird Gegenstand eines staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens. Die Umweltschutzorganisation Robin Wood stellte letzte Woche Strafanzeige wegen des Verdachts umweltgefährdender Abfallbeseitigung, unerlaubten Umgangs mit Kernbrennstoffen und schwerer Umweltgefährdung unter anderem gegen die Betriebsleitung der GKSS und des eigentlichen Entsorgungsunternehmens, der Firma Noell vom Salzgitter-Konzern. Nach Meinung der Umweltschützer gibt es „gravierende Anhaltspunkte für die Annahme, daß bei den Dekontaminationsarbeiten unzulässig radioaktiver Staub freigesetzt wird und „ungehindert in die Luft und in den Boden gelangt“. Die Atomschrott-Entsorgung auf dem Werksgelände mache zudem einen so „unordentlichen und verwahrlosten Eindruck“, daß eine „Gefährdung der dort beschäftigten Leiharbeiter“ angenommen werden müsse.“
Der Bundestagsabgeordnete Daniels (Regensburg) fragt zu diesen Vorgängen die Bundesregierung (Auszug aus der Kleinen Anfrage, 11. Wahlperiode, Drucksache 11/731 (PDF) vom 24.8.1987):

„15. Wie beurteilt die Bundesregierung die Auskunft des Hamburger Senats (Drucksache 13/87, Frage 3), daß auf dem Gelände des GKSS-Forschungszentrums Geesthacht GmbH nur Komponenten aus dem Kernkraftwerk Krümmel bearbeitet worden sind, in der Hauszeitung der GKSS aber ausdrücklich die Teile dem AKW Brunsbüttel zugeordnet werden, ebenso wie dies auf dem Schild in der Dekontaminationshalle steht (vgl. Frage 6 o. a. Drucksache)?
16. Welche Mengen sind nun auf dem Gelände der GKSS aus dem AKW Krümmel und welche Mengen aus dem AKW Brunsbüttel verarbeitet worden? Wieviel Material ist insgesamt aus diesen Kernkraftwerken dort verarbeitet oder angeliefert worden? Wieviel
lagert zur Zeit auf dem Firmengelände? Wieviel soll noch angeliefert werden? Fanden oder finden Lieferungen von anderen kerntechnischen Anlagen auf das Gelände der GKSS statt, oder sind solche Lieferungen geplant?
Antwort der Bundesregierung: Auf dem Gelände der GKSS, auf dem die Fa. Noell eine Halle angemietet hat, werden nahezu ausschließlich Teile aus dem Kernkraftwerk Brunsbüttel bearbeitet; diese Arbeiten werden Ende 87 beendet sein.
Bei dem Material handelt es sich überwiegend um Behälter aus dem Kernkraftwerk Brunsbüttel, die aus dem Turbinenkreislauf stammen und an der Oberfläche ihrer Innenseiten geringfügig radioaktiv verunreinigt sind (Oberflächenkontamination unter
10 Bq/cm2), mit einem Gewicht von ca. 500 t. Daneben sind vier Ventilgehäuse aus dem Kernkraftwerk Krümmel dekontaminiert und an das Kernkraftwerk zurückgegeben worden.
17. Welche Firmen nehmen wo in der Bundesrepublik Deutschland radioaktiv belastetes Material aus kerntechnischen Anlagen entgegen und versuchen, dieses Material zumindest partiell zu dekontaminieren oder irgendwie anders zu verarbeiten? Welche Mengen haben diese Firmen bisher erhalten? Sind Strahlengrenzwerte für diese Lieferungen festgelegt? Wie hoch sind diese?
Antwort der Bundesregierung: Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland mehrere  Firmen, die sich mit der Behandlung radioaktiver Reststoffe sowie ausgebauter oder abgebauter Anlagenteile befassen und ggf. dafür erforderliche Beförderungen durchführen. Wie auch die Berichte über die Vorkommnisse beim Vollzug der Strahlenschutzverordnung bestätigen, werden die atomrechtlichen Vorschriften, aber auch andere einschlägige Bestimmungen — z. B. die GGVS — eingehalten.
18. Was geschah mit den ca. 3 000 t Schrott, die bei den Arbeiten an den Kühlmittelkreisläufen der Siedewasserreaktoren Brunsbüttel, Isar I, Philippsburg I und Würgassen angefallen sind? Wie wurden sie, wo und von wem weiterverarbeitet, zwischen- oder endgelagert?
Antwort der Bundesregierung: Die bei der Sanierung der Siedewasserreaktoren ausgebauten Kühlmittelleitungen sollen — soweit sie nicht für Materialuntersuchungen benötigt bzw. für die Endlagerung in Frage kommen — schadlos verwertet werden. Dies ist z. T. bereits geschehen. Der Schrott wird dabei sehr sorgfältig überprüft und danach entschieden, ob das Material freigegeben werden kann oder einer kontrollierten Verwertung (z. B. Einschmelzen zur Herstellung von Gegenständen für den kerntechnischen Bereich) zuzuführen ist.“

Dirk Seifert

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