Widerstandsgeschichte im Atomstaat – Ein Buch zur Anti-Atom-Bewegung

Buch-anti-atom-AAAEin Buch aus den Reihen der Anti-Atom-Bewegung, über 380 Seiten stark, zahlreiche AutorInnen: „Die Anti-Atom-Bewegung – Geschichte und Perspektiven“ ist es übertitelt, aber die HerausgeberInnen schreiben selbst: „So ist ein Kaleidoskop insbesondere der wendländischen Widerstandsgeschichte und -kultur entstanden, welches weniger einer möglichst vollständigen, gar objektiven Geschichtsschreibung gehorcht, sondern subjektiv und parteiisch bleibt.“ Nimmt man das zur Grundlage, dann ist ein Buch entstanden, das aus einer bestimmten wendländischen Perspektive zahlreiche Ereignisse, Skandale und Aktionen zwischen Atomstaat und Widerstand in Erinnerung bringt bzw. aufschreibt und damit einen „Fundus aus Wissen und Erfahrung“ (S.5) bereit stellt, der auch heute noch von Bedeutung ist und ohne den der Anti-Atom-Konflikt gesellschaftlich kaum zu erklären wäre. Allerdings: DIE Anti-Atom-Bewegung ist das nicht und Perspektiven, wie es der Titel ankündigt, sind eher weniger Thema des Buches.

  • Zum Buch wird auf anti-atom-aktuell einiges zur Präsentation angeboten, unter anderem das Inhaltsverzeichnis, siehe hier. Das Buch ist erschienen bei Assoziation A.

Wyhl, Brokdorf, Grohnde, Kalkar, Wackersdorf, Tschernobyl, der Transnuklear-Skandal, Plutonium und mehr. Pläne, Absichten und Skandale der Atomwirtschaft und -Politik (Teil 1), denen ein vielfältiger wendländischer und manchmal auch überregionaler Widerstand eine Vielzahl von Aktionen und Maßnahmen entgegenhält, Sand im Getriebe wird (Teil 2): Von der „Gorleben Anhörung“ über Geld-Koffer, einen Treck, dem Tanz auf dem Vulkan, einer Republik freies Wendland, umgelegten Strommasten, großen Sitzblockaden oder Schottern gegen Castoren und und und.  Teilweise unter Pseudonym erzählen die AutorInnen wie in einem Kaleidoskop über widerspenstiges und auch militantes gegen den Atomstaat.

„Die Entwicklung hat den Widerständigen Recht gegeben in ihrem Misstrauen gegenüber Politik und Wirtschaft. Ökonomische und machtpolitische Interessen in einem System von Wachstum und Profit stehen dem Interesse der Menschen an einer lebenswerten Zukunft unversöhnlich gegenüber: dies ist die Bilanz aus jahrzehntelanger Erfahrung mit Vertuschungen, mit Lügen, mit der Arroganz der Macht.“ Mit diesem Satz machen die HerausgeberInnen (Tresantis) klar, aus welcher Perspektive sie als Teil der Anti-Atom-Bewegung über die „Anti-AtomBewegung – Geschichte und Perspektiven“ berichten.

Früher hätte man das als eher autonome Perspektive bezeichnet, eine, die viel mit Radikalität, Militanz und zivilem Ungehorsam zu tun und – wie die HerausgeberInnen selbst über sich (und einen Teil der AutorInnen) sagen: Aus einer „vielfachen anti-Haltung: anti-Atom ist für sie untrennbar verbunden mit anti-autoritärer, anti-staatlicher, anti-kapitalistischer Grundhaltung“.

Der Atomkonflikt in der Bundesrepublik wäre ohne diesen Teil des Widerstands gegen das Atomprogramm kaum denkbar, aber ist dennoch nur ein Teil des Widerstands, nur ein Teil der Anti-Atom-Bewegung.  Natürlich verweisen die HerausgeberInnen und AutorInnen an vielen Stellen darauf, dass es diese anderen Teile der Anti-Atom-Bewegung gibt und betonen diese Vielschichtigkeit als eines der wichtigen Merkmale in der Entwicklung und Kontinuität.

Immer wieder werden in den Beiträgen mit Blick auf den atomaren Wahnsinn das Recht auf Widerstand betont, das Gewaltmonopol des Staates angezweifelt und in Frage gestellt. Die Beiträge zeigen, mit welchem Selbstbewußtsein eine Anti-Atom-Bewegung abgewogene „Grenzüberschreitungen“ mit ihren Aktionen unternahm und damit immer wieder auch zu einer Art „Magneten“ für diejenigen wurde, die auf der Suche nach einer anderen gesellschaftlichen Perspektive jenseits der herrschenden Verhältnisse unterwegs waren.
Die äußerst wendländische und „subjektive“ Perspektive übersieht in dem Buch aber – und insofern ist der Titel eher unglücklich gewählt, dass Anti-Atom-Bewegung weitaus mehr ist. So ist es kaum überraschend, aber aussagekräftig, dass z.B. in dem Buch die gesamte Auseinandersetzung um die Laufzeitverlängerung und die Reaktionen der Anti-Atom-Bewegung dazu ebenso wie auf die Katastrophe von Fukushima äußerst selektiv sind. Laufzeitverlängerung war doch in der Tat weit mehr als Schottern.
Spätestens hier muss bei  aller Berechtigung einer „subjektiven und parteiischen“ Betrachtung dann auch mal festgehalten werden: Die Anti-Atom-Bewegung ist überall, am Schacht Konrad (z.B. Lichterkette), in NRW (Gronau, Jülich, Ahaus), in Grafenrheinfeld, Gundremmingen und Ohu, rund um Biblis, Krümmel, Brunsbüttel, Brokdorf, der ASSE und Neckarwestheim… Und da ist sie auch derzeit höchst aktiv, auch wenn das in einer bundesweiten Perspektive nicht immer unmittelbar sichtbar ist. Der für das Buch gewählte Titel hätte irgendwie nahegelegt, dazu auch etwas ins Programm zu nehmen.

Großaktionen, wie die 120 km lange Menschenkette zwischen den AKW Brunsbüttel und Krümmel Anfang 2010, der vorhergehende Treck nach Berlin 2009 und die mit ca. 100.000 TeilnehmerInnen folgende Berlin-Demo im Herbst 2010 in Berlin aus Anlass des Beschlusses zur Laufzeitverlängerung fehlen ebenso wie die massiven und massenhaften Reaktionen auf die Katastrophe in Fukushima: In fast jedem Ort der Republik wurde demonstriert, Großdemonstrationen wie die Südkette Stuttgart-Neckarwestheim, dann Demonstrationen in erst fünf, dann 20 Orten mit vielen hunderttausend Menschen sorgten dafür, dass die Regierung Merkel eine Kehrtwende vollziehen musste, die Laufzeitverlängerung abschaffte und immerhin acht AKWs sofort und dauerhaft abgeschaltet wurden. All das zeigte eine Anti-Atom-Bewegung, die weit mehr war, als das, was die HerausgeberInnen in ihrem Buch thematisieren: Eine Anti-Atom-Bewegung, die in ihrer Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit bis weit in die „Mitte der Gesellschaft“ reicht.
Spätestens diese Lücken in dem Buch zeigen die Grenzen von „subjektiv und parteiisch“ und verstellen dann nicht nur den Blick auf das Ganze. Es ist richtig und notwendig zu kritisieren, dass AKWs weiter in Betrieb sind, Anlagen wie die in Lingen und Gronau sogar vom Atomausstieg ausgenommen sind. Es ist aber durchaus auch richtig, festzustellen: Die „Korrektur“ nach Fukushima mit der sofortigen und dauerhaften Abschaltung von acht Atomkraftwerken ist gerade nach der Laufzeitverlängerungsdebatte auch ein großer Erfolg der bundesdeutschen Anti-Atom-Bewegung. Und das gilt auch dann, wenn man gleichzeitig feststellen muss, dass in Sachen Atommülllagerung oder Rückstellungen weiterhin ziemlich viel in ziemlich schlechter Form weitergeht. Das Gute ist: An nahezu allen Atomstandorten gibt es ihn immer noch: Den Widerstand.
Mit diesen Einschränkungen bleibt aber ein Buch, dass mit seinen vielen Widerstandsgesichten im eher wendländischen einen Einblick in den Anti-Atom-Widerstand gibt, der wohl auch für viele jüngere Menschen interessant sein dürfte, um etwas über über die Geschichte des Atomkonflikts und seinen tiefen Wurzeln zu erfahren.

Dirk Seifert

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